Psalm 22,17

Vorwurf der Anti-Missionare:

Die hebräische Bibel übersetzt Psalm 22,17 richtig und sagt: „Sie umgaben meine Hände und Füße wie ein Löwe.“ Das Wort ka’ari bedeutet klar „wie ein Löwe“, wie es auch deutlich wird in seinem Vorkommen in Jesaja 38,13 und in anderen Bibelstellen. Wenn David von seinen Feinden verfolgt wurde, bezeichnet er sie oft als „Löwen“ (z.B. in Psalm 7 und 17).
Jedoch, wenn wir die Stelle aus dem Zusammenhang herausnehmen und auf Jesus beziehen möchten, dann kommt eine falsche Übersetzung zustande, so z.B. bei Luther „sie haben meine Hände und Füße durchgraben“. Diese Stelle soll absichtlich die Gedanken auf Jesus hinlenken.

HaDavars Antwort:

Das ist ein Fall, wo wir uns nicht von der Kraft des Psalms ablenken lassen dürfen durch Übersetzungen, die es zu verteidigen gilt. Wir können all das Für und Wider erörtern, ob das betreffende Wort nun das Substantiv ari zuzüglich der Präposition ka ist, was bedeutet „wie ein Löwe“, oder ob es abgeleitet ist von der Wurzel kur, was mit einem medialen aleph „durchbohrt“ bedeutet.[1]

Wie auch immer, wir müssen das nicht tun aus dem einfachen Grund, daß die Textaussage sich nicht ändert, ganz gleich, für welche Übersetzung man sich entscheidet. Beide Versionen sind annehmbar. Es gibt kein Problem mit der Übersetzung „wie ein Löwe“. Dabei wird der Text nicht manipuliert, eine solche Anschuldigung ist gegenstandslos und ist ein weiteres Beispiel von Haarspalterei.

Hier zitieren wir aus einem guten, bibelgläubigen, konservativen christlichen Kommentar, der die Anliegen des Textes erkennen und darstellen will.

„Die Worte ‚sie haben meine Hände und Füße durchbohrt‘ beschreiben bildlich ein Zerreißen wie von wilden Tieren. Natürlich haben diese Worte im Neuen Testament durch ihren Bezug auf Jesus Christus eine größere Bedeutung (vgl. Lukas 24,39-40).“[2]

Wir verstehen, daß eine christliche Übersetzung dazu neigen wird, „durchbohrt“ zu sagen, während eine jüdische Übersetzung lieber „wie ein Löwe“ sagen wird. Die Septuaginta gebraucht ein Wort, daß bedeutet „einen Graben ausgraben“. Das ist anschaulich, nicht wahr? Wir alle haben unsere theologische Vorliebe. Jedoch wird die Unversehrtheit des Textes nicht dadurch in Frage gestellt, daß wir uns für eine Übersetzung entscheiden, die möglich und vertretbar ist und in den Zusammenhang paßt. Genau das ist bei beiden Wiedergabemöglichkeiten der Fall. Aber dieses Wort ist einfach nur ein kleines Detail in der gesamten Botschaft des Psalms selbst.

Eine dringende Bitte an den Leser ist, die gesamte Botschaft des ganzen Psalms zu erwägen, anstatt sich auf ein Wort zu fixieren, das so oder so zu verstehen ist. Machen Sie aus einer Mücke keinen Elefanten. Könnte dies ein Wortspiel sein, das absichtlich so entworfen ist, um den Leser gleichzeitig an mißhandeln und durchbohren denken zu lassen? Das wäre gleichfalls eine weitere Möglichkeit. Jesus bezog sich auf den Psalm, während Er zur Hinrichtung am Kreuz hing (Matthäus 27,46; Markus 15,34). Das ist es, was unsere Aufmerksam auf den ganzen Psalm zieht. Eigentlich wird Psalm 22,17 nirgends im Neuen Testament erwähnt. Die jüdischen Schreiber der Evangelien sahen zahlreiche, genaue Parallelen zur Kreuzigung Jesu in diesem Psalm. Ebenso sieht die rabbinische Schrift Jalkut messianische Zusammenhänge in Vers 8 und 16.

Eines dieser Details ist die Mißhandlung von Händen und Füßen. Es kommt nicht im geringsten darauf an, wie wir das Wort verstehen (als Substantiv oder als Verb). Tatsache ist die Verletzung der Hände und Füße. Die Übersetzung „wie ein Löwe“ ist gut wegen der Bildersprache von Tieren, die sich durch den ganzen Psalm hindurchzieht. Wenn ein Löwe in die Hände oder Füße eines Opfers beißt, werden seine großen Eckzähne diese ebenso durchbohren, wie es ein großer, römischer Nagel tut. Das messianische Verständnis dieses Psalms ist nach den rabbinischen Schriften außer Zweifel.

Dr. Michael Brown faßt in seinem Buch Answering Jewish Objections to Jesus auf den Seiten 118 und 121-122 das Material wie folgt zusammen:

„Raschi erklärt Psalm 22,27 mit Bezug auf „die Zeit unserer Erlösung in den Tagen unseres Messias“, und dann legt er die Verse 28-30 mit Bezug auf die Völker der Heiden aus, die sich zum Herrn wenden werden, und weiter auf das Ende der Weltzeit und das Endgericht.“

 

„Pessikta Rabbati, der berühmte Midrasch aus dem achten Jahrhundert, legte einige Worte des Psalms auf die Lippen des leidenden Messias (genannt Ephraim, aber verbunden mit dem Sohn Davids), indem er Psalm 22,8.13.14 und 16 in den Zusammenhang mit den Leiden des Messias stellt. Tatsächlich stellt der Midrasch ausdrücklich fest, daß ‚es war wegen des Matyriums des Sohnes David, daß David weinte und sagte Meine Kräfte sind vertrocknet wie eine Scherbe (Psalm 22,16).‘ Haben Sie das mitbekommen? Nach dieser anerkannten rabbinischen Auslegung beschrieb David in Psalm 22 die Leiden des Messias!“

 

„Lassen Sie uns die Schlüsselworte noch genauer ansehen:

 

Während der Siebenjahresperiode, die dem Kommen des Sohnes Davids vorausgeht, werden eiserne Balken heruntergebracht und auf seinen Nacken geladen werden, bis der Körper des Messias tief gebeugt ist. Dann wird er schreien und weinen, und seine Stimme wird zur höchsten Höhe des Himmels aufsteigen, und er wird zu Gott sagen: Meister des Weltalls, wie viel kann meine Stärke aushalten? Wie viel kann mein Geist aushalten? Und wieviel mein Atem, bevor er aufhört? Wie viel können meine Glieder erleiden? Bin ich nicht aus Fleisch und Blut?

 

Es war wegen des Martyriums des Sohnes Davids, daß David weinte und sagte Meine Kräfte sind vertrocknet wie eine Scherbe (Psalm 22,16). Während des Martyriums des Sohnes Davids wird der Heilige, gelobt sei Er, zu ihm sagen: ‚Ephraim, mein wahrer Messias, vor langer Zeit, seit den sechs Tagen der Schöpfung, hast du dieses Martyrium auf dich genommen. Seit diesem Augenblick ist dein Leiden mein Leiden.‘

 

Auf diese Worte wird der Messias antworten: „Nun bin ich versöhnt. Der Knecht ist zufrieden, wenn er wie sein Herr ist.“ (Pessikta Rabbati 36:2).[3]

 

Ferner wird gelehrt, daß im Monat Nisan die Patriarchen aufstehen und zum Messias sagen werden: Ephraim, unser wahrer Messias, auch wenn wir deine Vorläufer waren, so bist du doch größer als wir, denn du hast für die Bosheiten unserer Kinder gelitten, und furchtbare Qualen haben dich befallen … Um Israels willen bist du zur Zielscheibe des Spottes geworden und zum Hohn für die Völker der Erde; und du saßest in Finsternis, in dichter Finsternis, und deine Augen sahen kein Licht, und deine Haut klebte an deinen Gebeinen, und dein Körper war ausgetrocknet wie ein Stück Holz; deine Augen waren trübe vom Fasten, und deine Kräfte waren vertrocknet wie eine Scherbe – all das waren Plagen wegen der Bosheiten unserer Kinder. (Pessikta Rabbati 37:1).[4]

 

Ephraim ist mein geliebter Sohn … Mein Herz verlangt nach ihm, in Barmherzigkeit will ich mich seiner erbarmen, spricht der Herr (Jeremia 31,20, eig.Übers.). Warum spricht der Vers zweimal von Barmherzigkeit: ‚in Barmherzigkeit will ich mich seiner erbarmen‘? Die eine Barmherzigkeit bezieht sich auf die Zeit, wenn er im Gefängnis eingeschlossen sein wird, eine Zeit, in der die Völker täglich mit ihren Zähnen über ihn knirschen werden, in der sie sich mit den Augen zublinzeln werden zu seinem Spott, in Verachtung mit ihren Köpfen nicken, ihre Lippen weit zu schallendem Gelächter öffnen, wie gesagt ist Alle, die mich sehen, verspotten mich, sperren das Maul auf und schütteln den Kopf (Psalm 22,8); Meine Kräfte sind vertrocknet wie eine Scherbe, und meine Zunge klebt mir am Gaumen, und du legst mich in des Todes Staub (Psalm 22,16). Auch werden sie über ihm wie Löwen brüllen, wie gesagt wird Ihren Rachen sperren sie gegen mich auf wie ein brüllender und reißender Löwe. Ich bin ausgeschüttet wie Wasser, alle meine Knochen haben sich voneinander gelöst; mein Herz ist in meinem Leibe wie zerschmolzenes Wachs (Psalm 22,14-15). (Pessikta Rabbati 37:1).[5]

 

„Was Psalm 22,17 betrifft, lesen fast alle der standardmäßigen, mittelalterlichen hebräischen Manuskripte (bekannt als masoretisch) ka’ari, gefolgt von den Worten „meine Hände und meine Füße“. Laut Raschi ist die Bedeutung „als ob sie im Maul eines Löwen zermalmt worden sind“, während der Kommentar von Mezudat David sagt „sie zermalmen meine Hände und Füße wie der Löwe, der die Knochen der Beute in seinem Maul zerbricht.“ Also ist das Bild klar: Diese Löwen lecken nicht die Füße des Psalmisten! Sie zerren und reißen daran.[6] Wenn wir die bildhafte Sprache der umliegenden Verse dazunehmen (vgl. Verse 13-22), dann vermittelt das Bild von den reißenden Löwen anschaulich die große körperliche Qual des Leidenden. Würde das auf irgendeine Weise dem Bild eines gekreuzigten Opfers widersprechen mit seinen ausgerenkten Knochen, den Spötter umringen und verhöhnen, dessen Kleider ihm abgenommen und unter seinen Feinden verteilt wurden, dessen Füße und Hände von Nägeln durchbohrt sind und dessen Körper an Stücken von Holz hängt?“[7]

 

„Tatsächlich war die Septuaginta, die älteste existierende Übersetzung des Tanach, die erste, die das hebräische Wort mit „sie durchbohrten meine Hände und Füße“ (im Griechischen wird dazu das Verb ōryxan verwendet) übersetzte. Ihr folgte die syrische Peschitta zwei oder drei Jahrhunderte später (sie übersetzte baz’u). Nicht nur das, sondern die älteste hebräische Handschrift der Psalmen, die wir besitzen (aus den Schriftrollen von Qumran, die aus dem Jahrhundert vor Jeschua stammen), lesen das Verb in diesem Vers als ka’aru (nicht als ka’ari „wie ein Löwe“)[8], eine Lesart, die auch in rund einem Dutzend mittelalterlicher masoretischer Manuskripte vorkommt und damit als maßgebender Text im traditionellen, jüdischen Denken verankert ist. Dort steht an Stelle von ka’ari (wie in fast allen anderen masoretischen Manuskripten) entweder ka’aru oder karu.[9] (Hebräische Gelehrte nehmen an, dies komme von einer Wurzel, die „ausgraben“ oder „durchbohren“ bedeutet.) Somit übersetzt die älteste von Juden hergestellte Übersetzung (die Septuaginta) „sie durchbohrten“; die älteste jüdische Handschrift (vom Toten Meer) schreibt ka’aru, nicht ka’ari; und mehrere masoretische Manuskripte schreiben ka’aru oder karu anstatt ka’ari. Das ist also keine christliche Erfindung.“[10]

Die Antimissionare versuchen, die Sache so darzustellen, als ob die christlichen Übersetzungen von Psalm 22,17 raffinierte, absichtliche Erfindungen enthalten, die den Leser an Jesus denken lassen sollen. Wir meinen aber, wenn das Beweismaterial dafür geprüft wird, dann gibt es hier keine raffinierten, absichtlichen Erfindungen. Wir geben offen zu, daß der Text von Psalm 22,17 – wie auch der gesamte Psalm – ganz sicher den Leser an Jesus denken läßt. Warum? Weil Er, der Messias Israels, genau alles das erfüllte, was über Seine Kreuzigung vorhergesagt wurde. Wir haben hier keine Manipulation des Textes, sondern wunderbare, göttliche Offenbarung.

  1. ^ Harris, R. Laird, Archer Gleason L., Waltke, Bruce M, Eds., Theological Wordbook of the Old Testament, (Chicago, IL: Moody Press) 1980
  2. ^ Walvoord, John F., and Zuck, Roy B., The Bible Knowledge Commentary, (Wheaton, Illinois: Scripture Press Publications, Inc., 1983, 1985), Logos Research Systems Electronic Edition
  3. ^ From the standard translation of William G. Braude, Pesikta Rabbiti: Homiletical Discourses for Festal Days and Special Sabbaths, 2 vols. (New Haven: Yale, 1968), pp. 680-81
  4. ^ Ibid., pp. 685-86
  5. ^ Ibid., 686-87. All of these citations can be found in the useful Internet article on Psalm 22 found on http://www.messianicart.com/chazak/ps22.htm.
  6. ^ It should be noted that the reading ka’ari, “like a lion”, is not without problems, since there is no verb in this clause. In other words, the Hebrew literally reads, “like a lion my hands and feet,” necessitating the addition of the words “they are at” in most contemporary Jewish translations. Thus, the NJPSV translates, “Like lions [they maul] my hands and feet” (with reference to Rashi and Isaiah 38:13 in the footnote). Cf. Rozenberg and Zlotowitz, The Book of Psalms, 122, 127. Stone translates, “Like [the prey of] a lion are my hands and my feet.”
  7. ^ This observation undermines the claim of Rabbi Singer that “when the original words of the Psalmist are read, any allusion to a crucifixion disappears” (http://www.outreachjudaism.org/like-a-lion.html).
  8. ^ Cf. Martin Abegg Jr., Peter Flint, and Eugene Ulrich, eds. and trans., The Dead Sea Scrolls Bible: The Oldest Known Bible (San Francisco: Harper San Francisco, 1999), 519: “Psalm 22 is a favorite among Christians since it is often linked in the New Testament with the suffering and death of Jesus. A well-known and controversial reading is found in verse 16, where the Masoretic text has ‘Like a lion are my hands and feet,’ whereas the Septuagint has ‘They have pierced my hands and feet.’ Among the scrolls the reading in question is found only in the Psalms scroll found at Nahal Hever (abbreviated 5/6HevPs), which reads, “They have pierced my hands and my feet!”
  9. ^ In contrast with this, only one Masoretic manuscript reads ka’aryeh (“like a lion”, ‘aryeh is a variant spelling for ‘ari, “lion”). Delitzsch (Psalms, 1039) points out this same form, and he notes that “perceiving this [difficulty of the translation ‘like a lion’ in the context], the Masora on Isa xxxviii. 13 observes, that k’ari in the two passages in which it occurs (Ps. Xxii. 17, Isa. Xxxviii. 13), occurs in two different meanings, just as the Midrash then also understands k’ri in the Psalm as a verb used of marking with conjuring, magic characters.”
  10. ^ The exact evidence as documented in the standard edition of Kennicot and de Rossi lists seven Masoretic manuscripts reading k’rw, while three other manuscripts have the reading krw in the margins. It has also been pointed out by some scholars that the Hebrew word used for “lion” in Psalm 22:13[14] is the more common ‘aryeh, making it more doubtful that a different form of the word, namely, ‘ari, would be used just two verses later. Yet this is what the normative reading in the Masoretic manuscripts would call for.