Vorwurf der Anti-Missionare:
In der Luther-Bibel von 1984 heißt es:
„Dienet dem HERRN mit Furcht und küßt seine Füße (früher: küsset den Sohn) mit Zittern, daß er nicht zürne und ihr umkommt auf dem Wege.“
In der jüdischen Übersetzung (Tanach) lesen wir:
„Huldigt ihm in Reinheit (naschschequ-bar), damit er nicht zürne und ihr umkommt.“
Die Bedeutung des hebräischen Wortes bar ist „rein“ oder „klar“. Ja, in aramäisch bedeutet das Wort bar „Sohn“, aber es wird nur in der Kombination mit einem Namen gebraucht, wenn man sagt „Sohn von …“. Wenn der Schreiber in aramäisch nur den Sohn allein gemeint hätte, dann hätte er das Wort ber’a mit dem Buchstaben Alef am Schluß geschrieben. Durch das einfache Fortlassen eines aramäischen Wortes ändert sich der gesamte Sinn des Verses.
HaDavars Antwort:
Der Einwand betrifft tatsächlich einen strittigen Punkt. Wir können in alle Einzelheiten der aramäischen und hebräischen Sprache gehen, so wird doch des Ergebnis dasselbe bleiben. Der Sinn von Vers 11 ist die Unterwerfung unter Israels souveränen König.
In den rabbinischen Schriften herrscht eine zwiespältige Meinung darüber, ob das ein messianischer Psalm ist. Der große messianisch-jüdische Gelehrte Dr. Alfred Edersheim hat das in seinem Buch The Life and Times of Jesus the Messiah dokumentiert. Im Anhang 9 zu diesem Werk listet er eine ganze Seite lang die rabbinischen Zitate und Bezugnahmen auf, in denen sie bestätigen, daß dieser Psalm messianisch ist. Rev. Tom Huckel führt in seinem Buch The Rabbinic Messiah 14 rabbinische Zitate an, die die messianische Bedeutung von Psalm 2 bescheinigen.
Psalm 2 ist einer der im Neuen Testament am häufigsten zitierten Psalmen, die Jesu Messianität bezeugen. Die gläubigen Juden des ersten Jahrhunderts wurden von den Rabbinen belehrt, daß Psalm 2 vom Messias spricht. Sie waren davon überzeugt, daß hier von Jesus die Rede war, und sie verkündigten diese Botschaft, obwohl sie dabei ihr Leben riskierten. Ich möchte hier bemerken, daß das Wesen dieses Psalms und seine Anwendung keinesfalls nur auf dem 12. Vers beruht. Vers 12 kann auf verschiedene Weise übersetzt werden, doch dadurch wird der Gesamteindruck des Psalms nicht beeinträchtigt. Die Kontroverse um naschschequ-bar ist wohlbekannt. Die Übersetzer haben darum gerungen und sind zu unterschiedlichen Ergebnissen gekommen:
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Küsset den Sohn, damit er nicht zürne und ihr umkommt auf dem Wege, denn sein Zorn wird bald entbrennen. Gesegnet sind alle, die bei ihm ihre Zuflucht nehmen. (American Standard Version)
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Küsset den Sohn, damit er nicht zürne und ihr umkommt abseits vom Wege, wenn sein Zorn nur ein wenig entbrannt ist. Selig sind alle, die in ihn ihr Vertrauen setzen. (King James Version)
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Huldigt dem Sohn, daß er nicht zornig wird und ihr nicht auf dem Wege umkommt, denn sein Zorn mag bald entbrennen. Wie gesegnet sind alle, die in ihm ihre Zuflucht nehmen! (New American Standard Bible)
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Küsset den Sohn, damit er nicht zürne und ihr auf eurem Wege vernichtet werdet, denn sein Zorn kann in einem Augenblick entbrennen. Gesegnet sind alle, die in ihm ihre Zuflucht nehmen. (New International Version)
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Küsset seine Füße, damit er nicht zürne und ihr umkommt auf dem Wege; denn sein Zorn wird sich rasch entzünden. Gesegnet sind alle, die in ihm ihre Zuflucht nehmen. (Revised Standard Version)
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Huldigt ihm in Reinheit, damit er nicht zürne und ihr umkommt auf dem Wege, wenn sein Zorn plötzlich entbrennt. (Jewish Publication Society)
Ungewöhnlich in dem Vers ist der offensichtliche Gebrauch von bar, einem aramäischen Wort für Sohn. Deshalb übersetzen es die Bibelversionen unterschiedlich. Hieronymus übersetzte „Bereitet ihm eine reine Anbetung“ (bar ist ein hebräisches Wort für „rein“) oder „betet ihn an in Reinheit“, anstatt das Wort mit „Sohn“ zu übersetzen. (The Bible Knowledge Commentary)
„Sohn“ ist eine vertretbare Übersetzung, ebenso wie „Reinheit“, „rein“ und „Füße“ vertretbar sind, aber ein Streit um diese Übersetzung ist nicht notwendig. Der messianische Sinn des Psalms wird nicht bestimmt durch die Wiedergabe des aramäischen Wortes bar. Der Leitgedanke ist die Unterwerfung unter den jüdischen Messiaskönig. Das ist keine „Manipulation“ des Textes, es ist lediglich ein Beipiel für die normalen Schwierigkeiten eines Übersetzers, wenn er sich mit einem Text beschäftigt. Das Ringen um Genauigkeit tritt besonders dann in Erscheinung, wenn die Textkonstruktion ungewöhnlich ist. Alle Übersetzungsmöglichkeiten unterstützen dieselbe Idee, nämlich die Unterwerfung unter Israels souveränen König. Keines der Zitate im Neuen Testament verlangt, daß die Übersetzung in Vers 12 mit „Sohn“ erfolgt. Das wäre zwar schön, weil es den Gedanken der Messianität Jesu noch besser unterstützen würde. Aber eine genaue Übersetzung ist hier gar nicht notwendig, wenn es um die messianische Bedeutung oder Botschaft von Psalm 2 geht.
Mit allem nötigen Respekt muß man sagen, daß der Einwand des Anti-Missionars völlig den Kernpunkt des Psalms verfehlt. Er geht daran vorbei, indem er sich übermäßig auf die Einzelheiten zur Übersetzung eines einzigen Satzteils konzentriert. Dieser Satzteil ändert in keiner Weise die Botschaft des Psalm, ganz gleich, welche Übersetzung man wählt. Dies ist ein Psalm, der von den Rabbinen gut als messianisch bezeugt wird. Die jüdischen Gläubigen des ersten Jahrhunderts stimmten dem zu und wandten den Psalm auf Jesus an.
Der Einwand ist einfach ein Beispiel von Wortklauberei. Diese wird definiert als:
- der Wahrheit oder der Wichtigkeit einer Sache ausweichen, indem man belanglose Unterschiede oder Einwände hervorhebt;
- Fehler suchen oder kritisieren aus kleinlicher Veranlassung.[1]
Lernen Sie, solche Wortklauberei zu erkennen, wenn sie auftaucht, und bezeichnen Sie sie mit ihrem richtigen Namen – mit einem „Ausweichen der Wahrheit“.
- ^ The American Heritage Dictionary of the English Language, fourth ed., copyright 2000 by Houghton Mifflin Company