Jesaja 53,10

Der Vorwurf der Anti-Missionare:

Die jüdische Übersetzung von Jesaja 53,10 ist die genaueste. Wir finden sie in der Tanach-Bibel:

„Und der Herr wollte ihn zerschlagen, Er machte ihn krank; wenn seine Seele von sich aus erstattet (Schuld anerkennt), soll er Nachkommen sehen, er wird seine Tage verlängern und Gottes Vorhaben soll in seiner Hand gelingen.“

Die deutsche Luther-Übersetzung (1984) sagt:

„So wollte ihn der HERR zerschlagen mit Krankheit. Wenn er sein Leben zum Schuldopfer gegeben hat, wird er Nachkommen haben und in die Länge leben, und des HERRN Plan wird durch seine Hand gelingen.“

Diese Übersetzung weist auf Jesus hin und soll damit ungenau sein.

HaDavars Antwort:

Der Anti-Missionar beanstandet die anderslautende Wiedergabe von Jesaja 53,10 in manchen Bibelübersetzungen. Er verweist auf die Abweichung von der jüdischen Tanach-Version. Das empfindet er als absichtliche Verdrehung der Meinung dieses Verses. Der Vers sei so entstellt worden, als ob er von Jesus spräche, was er aber in Wirklichkeit nicht tut. Lassen Sie uns einen Blick werfen auf die wichtigen Aussagen und sehen, ob die wesentliche Textbedeutung verändert wird.

  1. Die Übersetzung „zerschlagen“ ist ein bildlicher Gebrauch des Wortes, wie es in Psalm 143,3; 94,5, Jesaja 3,15 und Sprüche 22,22 (Luther: „unterdrücken“) vorkommt. Bei der deutschen Lutherbibel gibt es da nichts zu beanstanden, wohl aber bei manchen anderen, vor allem englischen Bibelausgaben.
  2. Statt von „Krankheit“ zu reden, sollte man lieber von „Kummer“ oder „Herzeleid“ sprechen. Das Wort, das hier zur Diskussion steht, ist „chalah“. Es hat eine recht vielseitige Bedeutung, und seine vorrangige Meinung ist tatsächlich „krank“. Hier steht es in der Hiphil-Form. Diese Form wird auch verwendet, um Gefühle auszudrücken, beispielsweise „Hoffnung, die sich verzögert, ängstet das Herz“ – das ist ein Bezug auf seelischen Schmerz in Sprüche 13,12. In Jesaja hat der Herr ihn „krank“ gemacht im Sinne seelischen Schmerzes. Es könnte aber auch in körperlichem Sinne gemeint sein, z.B. „er hat ihn verwundet“. Insofern ist die vorliegende Übersetzung akzeptabel.
  3. Nun wollen wir den Ausdruck „Schuldopfer“ untersuchen. Hier steht das maskuline Wort „ascham“ in der Einzahl. Mit wenigen Ausnahmen bedeutet es „Opfer für Übertretungen“ oder „Schuldopfer“ (22 mal in 3.Mose). Die Übersetzung „Opfer für Sünde“ wäre annehmbar, aber sie trifft nicht ganz zu, „Schuldopfer“ ist besser.

Da Jesus keine Kinder hatte, konzentriert sich die ganze Auseinandersetzung darauf, ob der Ausdruck Samen, „serah“, bildlich gebraucht wird oder ob er streng auf einen wörtlichen Gebrauch in der Schrift beschränkt ist. Wenn er zu Recht auch in bildlichem Sinne zu verstehen ist, dann können die Nachkommen (wörtl. „Samen“) der leidenden Person aus Jesaja 53,10 auch geistliche Abkömmlinge oder Jünger sein anstatt buchstäblicher Nachkommen. Ist das nicht so, dann allerdings werden die Kinder einem leidenden Individuum geboren.

Zuerst wollen wir den Zusammenhang von Jesaja 53,10 betrachten. Die Kernfrage ist: „Wie kann ein toter Mann, der als Schuldopfer geopfert wurde (V.10), seine leiblichen Kinder sehen und seine Tage verlängern?“ Zahlreiche, geachtete jüdische Kommentatoren haben bestätigt, daß die leidende Person von Jesaja 53,10 tatsächlich in den Versen 8-10 stirbt (siehe The Suffering Servant of Isaiah, Driver and Neubauer, Seiten IXX-IXXII). Der einzige Weg, auf dem er seine Kinder erleben kann, ist seine Auferstehung. Es geschieht hier also etwas, das über das Normale hinausgeht. Gott greift ein mit dem Wunderbaren. Das sollte uns sofort die Möglichkeit bewußt machen, daß der normale, natürliche Lauf der Dinge hier außer Kraft gesetzt wird. Somit meint der Text offenbar nicht einen leiblichen Nachkommen des Knechtes Gottes, sondern nach dem Zusammenhang müssen wir eine bildliche Bedeutung des Wortes serah annehmen.

Zweitens lassen Sie uns die Reichweite der Bedeutung von „serah“ untersuchen.[1]

  1. Das Wort kann die Saat bedeuten, wie sie fortgesetzt in jedem landwirtschaftlichen Jahresablauf stattfindet (z.B. 1.Mose 47,24).
  2. Das Wort bedeutet oft den eigentlichen Samen, der in den Boden gelegt wird (z.B. 1.Mose 47,19).
  3. Serah bedeutet gelegentlich Sperma (z.B. 3.Mose 15,16).
  4. Oft meint der Ausdruck einen Nachkommen (z.B. 1.Mose 4,25).
  5. Schließlich wird er gebraucht, um Gruppen und Einzelpersonen zu identifizieren, die durch eine gemeinsame Qualität verbunden sind (z.B. Sprüche 11,21).

Wir haben einige bildlichen Vorkommen des Wortes kennengelernt. Selbstverständlich spricht der Gebrauch Nr. 1, Saat, nicht von „buchstäblichen Nachkommen“.

Bei Nr. 2 gibt es auch einen übertragenen oder bildlichen Gebrauch. Judas Götzendienst wird mit einer Saat verglichen in Jesaja 17,11. In Psalm 126,6 wird Israels Schicksal mit Samen und Garben verglichen (s.a. Hesekiel 17,5).

Ein anderer, selbstverständlich ebenso bildlicher Gebrauch ist Nr. 3, wo Samen „Sperma“ anstatt buchstäblicher Nachkommen bedeutet.

Gebrauch Nr. 4 ist der, den der Anti-Missionar gern betont. Serah bedeutet oft wirklich Nachkomme, aber nicht ausschließlich. Diese Tatsache versucht der Anti-Missionar zu verdunkeln. Ein beachtenswerter Gesichtspunkt für diesen Gebrauch besteht darin, daß das Wort sich auf zukünftige Generationen beziehen kann[2] (z.B. 5.Mose 28,46). Dr. Michael L. Brown schreibt in seinem Buch „Answering Jewish Objections to Jesus“ (Band 3, Seite 84): „Im Zusammenhang von Jesaja 53,10 wird gesagt, daß der Knecht des Herrn sehen wird, wie zukünftige Generationen seines Volkes dem Herrn dienen werden.“ Das ist eine sehr passende Beschreibung der Erfüllung dieses Verses durch Jesus.

Der fünfte Gebrauch ist höchst bildhaft. Ein Beispiel haben wir in Sprüche 11,21. Wenn dieses Wort genau genommen nur von „leiblichen Nachkommen“ spricht, dann wären die leiblichen Nachkommen eines bösen Menschen zur Verdammnis bestimmt, auch wenn sie ein gottgefälliges Leben führen. Warum? Weil sie nicht die Kinder eines gerechten Mannes sind. Wir wären gezwungen, Sprüche 11,21 so zu verstehen, als ob unsere Verdammnis oder Erlösung durch unsere Vorfahren bestimmt wird, ganz gleich, wie unsere persönliche Gerechtigkeit aussieht. Natürlich ist das eine lächerliche Auslegung, die völlig entkräftet wird durch das Leben von gerechten Personen, deren Vorfahren böse waren. Wir erinnern uns an den frommen König Hiskia, den direkten Nachkommen des bösen Königs Ahas, wie es im Tanach bei Hesekiel 18,20 beschrieben ist:

„Denn nur wer sündigt, der soll sterben. Der Sohn soll nicht tragen die Schuld des Vaters, und der Vater soll nicht tragen die Schuld des Sohnes, sondern die Gerechtigkeit des Gerechten soll ihm allein zugute kommen, und die Ungerechtigkeit des Ungerechten soll auf ihm allein liegen.“

Im Gegenteil, nach Sprüche 11,21 wird der Gerechte erlöst, weil er identifiziert wird und verbunden ist mit einer Gruppe, die eine gemeinsame Eigenschaft besitzt. In diesem Fall gehört er nicht zu den Nachkommen der Gerechten, weil sein Vater notwendigerweise gerecht gewesen ist, sondern weil er diese gemeinsame Eigenschaft persönlich besitzt, zusammen mit all jenen Leuten, die nach Gottes Maßstäben leben.

Ferner ist der bildliche Aspekt von serah ein Hilfsmittel für die Auslegung, das die Weisen des Altertums anwandten. In seinem Buch The Rabbinic Messiah stellt Tom Huckel die bildliche Bedeutung von 1.Mose 3,15 dar. Nach diesem Vers wird es Feindschaft geben zwischen dem Samen des Weibes und dem Samen der Schlange. Im Targum Pseudo-Jonathan und im fragmentarischen Targum zum Pentateuch repräsentiert die Frau das Gute und die Schlange das Böse.

Ebenso sah Sforno in der Schlange ein Bild. In seinem Kommentar bedeutet die Schlange den bösen Trieb. Nun sind das Gute, das Böse und der böse Trieb abstrakte Vorstellungen, die keine Kinder außer im bildlichen Sinne hervorbringen können. Folglich verwenden die Rabbinen in ihren Auslegungen den bildlichen Sinn. Übrigens werden beide Übersetzungen von 1.Mose 3,15 in den Targumim von den Rabbinen mit dem Kommen des Messias verbunden.

Einen anderen, bildlichen Gebrauch von serah gibt es in 1.Mose 4,25. Dort sagt Eva, Gott habe ihr einen anderen Sohn gegeben für Abel. Nach rabbinischer Lehre ist das eine Anspielung auf den Messias (Jewish Encyclopedia, Internet Edition, Artikel: Seth). Die Rabbinen sagen, das Wort Sohn (oder Samen, serah) bezieht sich nicht auf Seth, Evas wirklichen Sohn, sondern bezieht sich auf den Messias.

Zum Schluß lassen Sie mich noch einmal Dr. Brown (Seite 84) zitieren:

„… die Schwachheit dieses Arguments wird ersichtlich, wenn wir feststellen, daß keine geringere jüdische Autorität als Sa‘adia Gaon Jesaja 53 auf den Propheten Jeremia anwandte; Gott hat jedoch Jeremia niemals empfohlen, zu heiraten oder Kinder zu haben (Jeremia 16,2) … In der Neuzeit wurde Jesaja 53 auf den verstorbenen Lubawitscher Rebbe bezogen, aber er und seine Frau konnten keine Kinder haben.“

Diese beiden rabbinischen Auslegungen widerlegen den Anti-Missionar, der meint, der Knecht des Herrn müsse buchstäblich eigene Kinder haben.

Ich hoffe, ich konnte meinen Standpunkt klarmachen. Dieser antimissionarische Einwand ist abermals unbegründet. Er zeugt von einer mangelhaften Kenntnis des Hebräischen oder von fehlenden Studienunterlagen, die eine genaue Untersuchung des Textes ermöglichen. Weil der Ausdruck serah zu Recht in einem bildlichen Sinn verwendet werden kann, darum sind mit dem „Samen“ der leidenden Person in Jesaja 53,10 eher geistliche Nachkommen oder Jünger gemeint als ein leiblicher Nachkomme.

Im Falle Jesus ereignete sich das Ungewöhnliche. Er opferte sich selbst als Schuldopfer. Er starb tatsächlich und wurde auf wunderbare Weise wieder auferweckt. Heute lebt Er und verlängert damit Seine Tage. Er sieht Seine Jünger, seinen geistlichen Nachwuchs, und des Herrn Wille gelingt durch Seine Hand.

Schlußfolgerung: Der Text wird nicht manipuliert, sondern es gibt nur gute oder weniger gute Übersetzungen in die moderne Sprache. Die wesentliche Bedeutung des Textes wurde nicht verändert. Jesaja 52 und 53 sprechen von derselben messianischen Person. Die rabbinische Meinung ist, daß Jesaja 52 und 53 vom Volk Israel sprechen und nicht von einem persönlichen Messias. Die alten Rabbinen stimmen jedoch mit meinen Aussagen überein, trotz der modernen rabbinischen Meinung. Die alte rabbinische Position war es, überwiegend in Jesaja 52 und 53 einen Bezug auf den persönlichen Messias zu sehen. Ein paar Beispiele sollen genügen, um das zu bestätigen.

  • Jesaja 52,13 im Targum Jonathan zu den Propheten:
  • „Siehe, meinem Knecht dem Messias wird’s gelingen, er wird erhöht und sehr hoch erhaben sein.“

  • Jesaja 53,4 im babylonischen Talmud, Sanhedrin 98b:
  • „… Was ist sein [des Messias] Name? Die Schule von R. Schela sagte, Sein Name ist Schiloh, denn es steht geschrieben: bis Schiloh kommt. Die Schule von R. Jannai sagte, Sein Name ist Jinnon, denn es steht geschrieben: solange die Sonne währt, blühe [jinnon] sein Name (Psalm 72,17). Die Schule von R. Chanina behauptet, Sein Name ist Chanina, denn es steht geschrieben: weil ich euch keine Gnade [chanina] mehr erweisen (oder geben) will (Jeremia 16,13). Andere sagen, Sein Name ist Menachem, Sohn des Hiskia, denn es steht geschrieben: Denn der Tröster [menachem], der meine Seele erquicken sollte, ist ferne von mir (Klagelieder 1,16). Die Rabbinen sagten, Sein Name ist ‚der aussätzige Schüler‘, denn es steht geschrieben: Fürwahr, er trug unsere Krankheit und lud auf sich unsere Schmerzen; wir aber hielten ihn für den, der geplagt [nagua‘, mit Aussatz] und von Gott geschlagen und gemartert wäre (Jesaja 53,4).

  • Jesaja 53,5 im Midrasch Rabba, Ruth V,6:
  • „… Die fünfte Auslegung [von Ruth 2,14] läßt sich auf den Messias beziehen. Komm hierher:das ist das Erreichen des königlichen Standes. Und iß vom Brot:das bezieht sich auf das königliche Brot. Und tauche deinen Bissen in den Essigtrank: das betrifft seine Leiden, wie geschrieben steht: Aber er ist um unserer Missetat willen verwundet (Jesaja 53,4).[3]

Jesaja 52 und 53 beschreiben die messianische Person. Die messianische Person wird das endgültige, stellvertretende Opfer für die Sünde sein, ein „Schuldopfer“. Jesaja 52 und 53 werden immer wieder in der Brith Chadaschah (Neues Testament) zitiert. Die Stellen werden angeführt, weil die jüdischen, an Jesus Gläubigen des ersten Jahrhunderts den Textabschnitt auf diese Weise verstanden. Sie sahen Jesus als die buchstäbliche Erfüllung dieser Erwartung.

  1. ^ Brown, Driver, Briggs. Brown-Driver_Briggs Hebrew and English Lexicon (electronic ed.) Oak Harbor, WA: Logos Research Systems.
    Vine, Unger, White. Vine’s Complete Expository Dictionary of Old and New Testament Words. Nashville: T. Nelson.
    Harris, Archer, Waltke. Theological Wordbook of the Old Testament (electronic ed.) Chicago: Moody Press.
  2. ^ Ibid. Brown, Driver, Briggs.
  3. ^ Huckel, T. (1998). The Rabbinic Messiah (Is. 52:13). Philadelphia: Hananeel House.