Ein weiterer Faktor, der die Schreiber des Neuen Testaments beim Gebrauch der hebräischen Bibel beeinflußte, ist der sogenannte Targumim-Faktor. Das bezieht sich auf den auslegenden Übersetzungsstil in den Targumim, wie er im ersten Jahrhundert vorherrschend war. Das Wort „targum“ bedeutet „übersetzen“ oder „Übersetzung“. Die Targumim sind aramäische Übersetzungen der hebräischen Bibel. Aramäisch war eine der drei Sprachen, die im ersten Jahrhundert n.Chr. in Israel üblich waren (Hebräisch, Griechisch und Aramäisch).
Die Targumim sind keine Wort-für-Wort-Übersetzungen, sondern Umschreibungen und auslegende Übersetzungen. Sie würden etwa manchen modernen Bibelübersetzungen entsprechen, die es heute bei uns gibt und die den ursprünglichen Bibeltext auf alle mögliche Weise frei übersetzen, um eine aktuelle Sprache zu bieten. Dasselbe bezweckten die Targumim. Sie wollten den Bibeltext in Ausdrücken wiedergeben, die seinen Sinn so deutlich wie möglich erkennen ließen. An einer wörtlichen Übersetzung waren sie nicht interessiert. Zum Beispiel steht in Jes. 52,13 wörtlich: „meinem Knecht wird’s gelingen“; der Targum Jonathan sagt hier: „meinem Knecht, dem Messias, wird’s gelingen“. Der hebräische Text enthält nicht die Wörter „dem Messias“. Aber Jonathan verstand diesen Vers so, daß er auf den Messias hinwies, und dementsprechend ergänzte er den Text, als er ihn ins Aramäische übersetzte.
Er fügte die erläuternde Bemerkung „dem Messias“ hinzu. Damit wollte er dem Leser sein Verständnis des Textes mitteilen.[1] Können wir sagen, daß die Schreiber des Neuen Testaments dasselbe tun wollten? Ja, das können wir sagen. Sie waren Juden, die in demselben kulturellen Zusammenhang schrieben, wie es in den Targumim geschah.
Sie vermitteln ihr Verständnis des hebräischen Textes genau so wie Jonathan. Das ist eine Vorgehensweise, die von unserer gewohnten Methode erheblich abweicht. Wir leben im 21. Jahrhundert und nicht im ersten. Wir leben in Europa oder Amerika, nicht in Israel. Unsere Kultur besteht aus Hightech und Hochgeschwindigkeit, sie ist verstädtert, zielorientiert, auf die Zeit fixiert. Demgemäß sehen wir die hebräischen Schriften aus unserer Perspektive. Wir denken nicht daran, unserern Standpunkt dem Standpunkt des damaligen Schreibers und seiner Leser anzupassen. Aber wir sollten unser Bestes tun, um dessen Standpunkt zu verstehen. Das müssen wir schon aus Fairness gegenüber dem Autor und dem Text tun. Ohne solche Anpassung sind wir in Gefahr, die Bedeutung des Textes mißzuverstehen.
Dieser Wunsch, Verständnis zu vermitteln, wird von dem Bibel-Archäologen James A. Sanders in seinem Buch The Dead Sea Scrolls after Forty Years so erklärt:
„Die frühen Manuskripte wurden geschrieben, um in der Gemeinde vorgelesen zu werden. – Die Übermittler wollten, daß ihre Schriften von der Gemeinde verstanden wurden, darum änderten sie die Texte leicht ab, um ihr Verständnis zu erleichtern.“
Der wichtigste Satz ist der letzte, den wir hier kursiv gedruckt haben.
Aus diesem Satz muß ich ein Wort erklären, nämlich „Übermittler“ (tradent). Dieses Wort meint: „Die Person, die irgendeinen Besitz an einen anderen liefert oder aushändigt.“[2] Ich glaube, es ist dieser Begriff, der die jüdischen und christlichen Gemeinden annehmen läßt, die Bibel sei Gottes Eigentum. Wer anderen die Bibel lehrt oder vorliest, sieht sich als Verwalter, der Gottes Eigentum weitergibt; er betrachtet sich selbst als „Übermittler“. Damit er diese Verpflichtung verantwortlich erfüllen kann, tut er, was er für notwendig hält, um das Verständnis für die Empfänger zu erleichtern. Das ist die Grundlage für die Targumim.
Die aramäischen Umschreibungen oder Ergänzungen sollten den biblischen Text ändern, wenn der Übersetzer glaubte, daß die Änderung das richtige Verständnis des Textes erleichtern würde. Er meinte, eine solche Verbesserung verantworten zu können, wenn dadurch die richtige Bedeutung übermittelt werden konnte.
Der Wert der Targumim besteht darin, daß sie uns verstehen helfen, wie die Juden des ersten Jahrhunderts Bibeltexte verstanden. Die messianischen Juden des ersten Jahrhunderts waren über den Targumim-Faktor nicht beunruhigt. Sie hielten dieses Verfahren für gültig, weil es zum besseren Verstehen beitrug. Wenn ein Vers der hebräischen Bibel frei übersetzt wurde, so war das für sie nicht so problematisch, wie es heute für uns ist. Wir im 21. Jahrhundert sind freien Übersetzungen gegenüber bei weitem nicht so tolerant. Aber die Zitate im Neuen Testament stammen nicht immer Wort für Wort aus der hebräischen Bibel. Sie können sich leicht vom Original unterscheiden, weil sie so besser zu verstehen sind.
Was ich sagen will: Wenn ein Anti-Missionar die Christen beschuldigt, den Text zu manipulieren, so ist dieses Argument ungültig. Das ist eine übliche Anschuldigung, die die Anti-Missionare gegen das Neue Testament vorbringen. Aber Verbesserungen am Text, um ihn verständlicher zu machen, waren eine gängige Gepflogenheit in der jüdischen Gemeinde des ersten Jahrhunderts, und das Neue Testament ist ein Dokument aus dieser Zeit. Es reflektiert einfach nur die Kultur, in der es geschrieben wurde. Die Textänderung ist nicht eine betrügerische Praxis der Heiden, die dadurch einen arglosen und leichtgläubigen Juden zum Glauben an eine falsche Religion verführen wollen.
Da erhebt sich nun die Frage nach der Inspiration und Zuverlässigkeit des Neuen Testaments. Der Targumim-Faktor gefährdet nicht die Inspiration, Zuverlässigkeit und Autorität des Neuen Testaments. Wenn wir an eine göttliche Inspiration glauben, dann stört diese Praxis, die wir im Neuen Testament finden, Gott nicht.
Erinnern Sie sich, sie findet sich im Neuen Testament. Matthäus Kapitel 2 ist ein gutes Beispiel. Da Gott die Entstehung des Neuen Testaments überwacht hat, haben wir Vertrauen in dessen Text. Gott paßte auf, daß das richtige Verständnis der hebräischen Schriften auf den Seiten des Neuen Testaments vermittelt wird. Darum brauchen auch uns leichte Unterschiede in den Zitaten nicht zu beunruhigen. Sie sollten den entsprechenden Angriff eines Anti-Missionars für ungültig erklären.